Permafrost – Die tiefgefrorene Erinnerung an ein tiefgreifendes Ereignis
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Heidelberger Kunst-Performance-Kollektiv RAMPIG dokumentiert ihre Performance mit einer weiteren, einmalig 12-stündigen Live-Performance unter Einbeziehung der Gäste
[von Tobias Betzin (tb) mit Vor- und Nachwort von Nils Herbstrieth (nh)]
(nh) Es ist jetzt fast 4 Monate her, dass wir das “Winterquartier”(erster Teil) und die “Spuren im Schnee” (zweiter Teil) im wahrsten Sinne des Wortes “erleben” durften. RAMPIG hatte in einem verlassenen Haus am Rande Heidelbergs den Roman “DAS SCHLOSS” von Franz Kaffka performativ inszeniert. Die Zuschauer wurden dabei zu Mitreisenden auf einer Reise in eine fremde, kalte, abstoßende Welt. Sie wurden, ob sie wollten oder nicht, in die Rolle des Landvermessers K gesteckt und mussten dessen Unsicherheit, Versagensangst und Selbstzweifel live erleben. Noch nie war ein Roman so echt, so direkt erlebbar wie hier.
Was bleibt von einer Live-Performance, einer temporären Installation, wenn sie vorüber ist? Mit dem Thema der Dokumentation und Aufarbeitung der eigenen performativen Arbeit befasste sich nun der dritte Teil der Trilogie – der “Permafrost”. Die tiefgefrorene Erinnerung an ein tiefgreifendes Ereignis. Eine Performance ist mit den üblichen Mitteln nicht dokumentierbar. Da hilft kein Foto, kein Video, keine Tonaufnahme. Die extrem dichte, alle Sinne ansprechende Atmosphäre bleibt mit diesen Medien immer auf der Strecke. Deshalb ging RAMPIG einen anderen, echten und radikalen Weg ….
(tb) Was bleibt von Kunst, wenn man ihr den Wesenszug der Künstlichkeit nimmt? Es entsteht eine Parallelwelt, die genauso gut möglich wäre wie die scheinbare Realität. Dieses „Kunststück“ gelingt dem Heidelberger Performance-Kollektiv RAMPIG mit ihrem neuesten Werk “Permafrost” bravourös. Was den Zuschauern in den Räumlichkeiten des Mannheimer zeitraumexit geboten wird, geht weit über eine Konsumgelegenheit hinaus. “Permafrost” ist die ausgestreckte Hand des Kollektivs zu einer Reise, einem intensiven Erlebnis, der Aufgabe des Zuschauerdaseins, zur Assimilation. In der gewaltigen, zwölf(!) Stunden dauernden Inszenierung erscheint das Ergebnis als opulenter Gegenvorschlag zum Gewohnten.
Es beginnt als harmloses Spiel: Am Eingang die Frage nach Name und Alter, der Tausch der Straßenschuhe gegen Pantoffeln, Platznehmen auf dem Boden, Warten. Die Tür des etwa 50 m² großen Raums fällt ins Schloss. Keine Begrüßung. Stattdessen wird das Regelwerk der Aufführung, die Hausordnung, verlesen und der Zuschauer zum Bewohner erklärt. Einzig Passagen aus Kafkas Fragment gebliebenem Roman „Das Schloss“, auf dem die Aufführung basiert, dienen als Geleitwort des Kommenden. Die Bewohner werden aufgefordert, sich aus dem bereitgestellten reichhaltigen Kleidungsfundus von abstoßender Helmut-Kohl-Biederkeit zu bedienen und neu einzukleiden. Es fällt somit auch die optische Barriere zwischen Künstlern und Publikum. Es dämmert: Das ist kein Spiel. Und dieser Raum wird für die nächsten zwölf Stunden der Nabel der Welt sein.
Während das Element der Kälte am Anfang in Form eines an alle Zuschauer ausgehändigten Eisklumpen in Erscheinung tritt und diese eint, stellt sich mit dem Verlauf der Performance immer weiter heraus, dass Kälte keine Frage der Raumtemperatur ist. Man wünscht sich sogar regelrecht, die Gänsehaut und das Frösteln kämen von außen an die Haut; nicht von innen. Ausgestattet mit dem Interieur des Winterquartiers füllt sich der Raum nach und nach mit Szenerien, die von den namentlich dazu aufgeforderten Bewohnern aufgebaut werden. Das Stück wächst und wird dichter, manifestiert sich als gemeinsames Werk im Raum und spricht alle Sinne an. Alle. Der ölig-ranzige Fischgeruch stammt von echtem Fisch, was wie eine alte Schallplattenaufnahme klingt, ist eine echte Schallplatte auf einem echten Plattenspieler, die verstohlen aus dem Augenwinkel wahrgenommene Nacktheit ist die echte Nacktheit echter Menschen.
Den Bewohnern stellt sich die Frage, wie sie sich in dieser Realität verhalten sollen, da ihr Handeln – selbstverständlich – echte Konsequenzen hat und sie echte Entscheidungen treffen müssen. Zum Beispiel die, wie weit sie sich überhaupt assimilieren lassen wollen. Nicht alle sind bereit dazu, sich völlig auf dieses Erleben einzulassen oder in der Lage, die Welt, aus der sie kamen, zu vergessen. Wer aber von diesem Erleben vereinnahmt ist, lebt, denkt und fühlt in dessen Rahmen. Muss entscheiden, ob er das Angebot, mit einer Performerin etwas trinken zu gehen und sich in einen im Viertel gelegenen Keller mit trostlosem Dorfdiscocharme begibt. Muss entscheiden, ob er einem einfachen „Komm!“ Folge leistet und eine beklemmende Einzelperformance im Keller über sich ergehen lässt. Muss entscheiden, ob er der beim Eintritt ausgehändigten, auf Papier abgedruckten Aufforderung, jemanden zu einer bestimmten Uhrzeit an einem bestimmten Ort zu treffen, nachkommt und eine – echte – Busreise in das verlassene “Winterquartier” unternimmt. Muss entscheiden, ob er sich von den Bewohnern waschen lässt oder nicht.
Die Erlebnisse dieses halben Samstags gehen bestimmt nicht spurlos an den Bewohnern vorbei. An dessen Ende steht die Frage, welche Welt nun in welcher existiert. Das gemeinsame Erleben in seiner mysteriösen Selbstverständlichkeit stößt gleichermaßen ab und übt eine Sehnsucht und Neugierde hinterlassende Anziehung aus. Das erzeugte Empfinden ist dauerhaft. Es ist kalt. Es ist harsch, lebensfeindlich und von erhabener Schönheit. Es verlangt unaufgeregt Geltung. Es bleibt unnahbar. Es verdient den Namen “Permafrost”.
(nh) Jetzt ist es vorbei, und vorbei ist vorbei. Auch dies wurde eindrücklich dokumentiert als nach etwa 10 Stunden die komplette Ausstattung, Dekoration, Möbel bis hin zu den Kostümen von der Performern und den Zuschauern in eine große Müllpresse verfrachtet wurden. Alle Dokumente, Pläne, Skizzen, Notizen, Bilder, Regieanweisungen usw. landeten im Reißwolf und wurden “entsorgt”. Auch wieder im wahrsten Sinne des Wortes. Noch ein mal kurz durchgefegt, dann ging es ans Feiern und hoffentlich bald an neue Projekte.