Explosiver Ausdruck und innigste Beseeltheit
Zeitgenössische Musik: Die Gesellschaft für Neue Musik gastiert erstmals bei Zeitraumexit und bringt im Jungbusch Kurtágs „Kafka Fragmente zur Aufführung“
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Endlich, so hören wir uns fast selbst rufen, endlich schafft es die Gesellschaft für Neue Musik (GNM) einmal, an Orte vorzudringen, die zu dem passen, was sie tut: nämlich mit neuen oder experimentellen Klängen des 20. und 21. Jahrhunderts unsere Ohren und Sinne zu öffnen. Wir sprechen über Zeitraumexit, das sympathische, innovative und mittlerweile fast schon legendäre Künstlerhaus im Mannheimer Jungbusch, dessen durch experimentelle Bühnenpionierarbeit erkämpfter Ruf längst bis in die Theaterhauptstadt Berlin hinaufreicht. Hier also findet der große Lauschangriff in Sachen zeitgenössischer Musik diesmal statt. Und der Plan des neuen GNM-Programm-Machers Sidney Corbett geht auf: Der weiß getünchte Zeitraumexit ist voll, man sitzt intim und hochkonzentriert nebeneinander (statt wie in den REM vollkommen verloren vor Mitschreibtischchen), und wenn nicht alles täuscht, so weht da sogar ein Hauch „Nichts-ist-unmöglich durch den Raum.
Aktion und Stockung
In der Tat: György Kurtágs „Kafka Fragmente“ für Sopran und Violine von 1987 passen hierher. Zumal in der Variation Corbetts: Vor den vier Teilen des rund 60 Minuten langen Duos lässt er Schauspielerin Nadine Schwitter Kafka-Briefe rezitieren. Daraus ergibt sich dann ansatzweise eine 90-minütige szenische Anordnung, mit der Schwitter mit eindringlichem Ton kleine narrative Inseln entstehen lässt (einmal sogar mit einem Mini-Video Philipp Ludwig Stangls verstärkt). Vollkommen mit Kurtág verbinden kann sich das gesprochene Wort nicht. Im Gegenteil: Es behindert den Fluss der 40 Miniaturen doch merklich.
Wo ein Zug nach vorn, ein Vom-einen-ins andere-Kommen dramaturgisch richtig wäre, entstehen Aktion und Stockung, die der Poesie der Musik schaden. Dies aber bleibt der einzige Kritikpunkt eines starken Abends, an dem Sopranistin Caroline Melzer und Violinistin Nurit Stark Momente höchster Expressivität genau so heraufbeschwören wie zerbrechliche Privatheit. Kurtág hat schier alle Spielarten ausprobiert.
Die Geige lässt er warm am Griffbrett, kalt und elektronisch klingend am Steg spielen, es wird gekratzt, gezupft, mit Mikrotonalität die Chromatik erweitert und allerlei anderes getan, eine der zwei Violinen, die Stark spielt, wird sogar immer wieder umgestimmt. Die scheinbar tabulose Reichhaltigkeit erinnert an ein anderes großes Werk: Nonos Streichquartett „Fragmente – Stille, an Diotima“, dessen Gefühlsamplitude freilich deutlich weniger ausschlägt. Denn zwischen explosivem Ausdruck und innigster Beseeltheit ist das, was hier entsteht. Und wenn Melzer final in einem Akt höchster Entrücktheit die „Mondnacht“ singt, wenn sie die Worte „Es blendete uns die Mondnacht. Vögel schrien von Baum zu Baum…“ in kleinen Arabesken und Schlenkern und die sanft pfeifenden Violinlichterketten legt, so entstehen die intensivsten Momente des Abends.
Melzers Sopran ist beweglich und kann zwischen federleichtem Soubrettenton und schwerer, bis hin zu Hysterie reichender Dramatik im Nu wechseln. Dadurch entsteht das Wechselbad der Gefühle, das über uns ausgegossen wird, denn auch wenn Kafka immer nur fragmentarisch zu uns spricht, so hat Kurtág mitnichten am Material gespart. Großer Jubel herrscht hier am Ende. Die drei Künstlerinnen schaffen einen intensiven Abend der Stille und Einkehr in einem Raum, den die GNM im Auge behalten sollte.
Stefan M. Dettlinger