Performances aus der Wilsonstraße
Die Absolventen des Gießener Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft geben bei zeitraumexit in Mannheim eine Werkschau
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von Heike Marx
Das Institut für angewandte Theaterwissenschaft (ATW) an der Justus-Liebig-Universität Gießen gilt als Wiege deutscher Performance-Kunst. Erfolgreiche Gruppen wie Rimini Protokoll, She She Pop, Gob Squad, Monster Truck sind daraus hervorgegangen. Zeitraumexit unterhält zu ihm unterschiedliche Partnerschaften. Jetzt war die Werkschau des Absolventenjahrgangs in Mannheim zu Gast. An zwei Abenden wurden unter dem Titel 'Wilsonstraße' einige Arbeiten präsentiert.
Wilsonstraße, nach dem Theater- und Performance-Künstler Robert Wilson, heißt der Gang des Instituts. Hier wird eine Verbindung von Theaterpraxis und Theaterwissenschaft gelehrt, die sich als postdramatisch und mit sämtlichen Künsten verschwistert versteht. Entsprechend vielgestaltig sind die theatralen und performativen Ansätze der Studenten.
'1937' heißt eine Arbeit von Fabian Offert und Anna Schewelew. Sie besteht aus zwei Teilen, die dem Augenschein nach nichts miteinander zu tun haben. Anna Schewelew sitzt an einem Tisch, zieht Karten aus einem Zettelkasten und liest sie vor. Lecture heißt diese Form in der Performance-Kunst. Was sie liest, erzählt von ihrer Großmutter in Russland und berichtet über geographische, historische, soziologische Fakten vor Ort. Am Ohr des Zuhörers rauscht alles vorbei. Von einer starken Lampe auf ihrem Tisch geblendet, vermag er der Leserin kaum ins Gesicht zu sehen.
Teil zwei ist ein schwarzer Kubus mit einem schmalen Lichtschlitz. Gedämpft und wie von sehr weit entfernt, erklingt eine altmodische Musik - eben aus dem Jahr 1937. Das Publikum wartet und wartet, doch es geschieht nichts. Irgendwann geht einer um den Würfel herum, um durch dessen hinteren Lichtschlitz hineinzuspähen. Dann folgen alle anderen. Das eigentlich Interessante an der Arbeit ist die Gruppendynamik, die sie auslöst. Im Kubus sieht man nichts als blendendes Weiß. Für sich genommen, ist das keine neue Erkenntnis. Auf die Lecture bezogen, muss es wohl bedeuten: die Black Box der Erinnerung enthält nur weiße Leere.
'Sehnsucht hinter Masken' evoziert Sehnsüchte und Maskeraden subtil indirekt in einer material sehr direkten Szenerie aus weißem Schaumstoffteppich, der von Birkenstämmchen umzäunt ist. Sylvia Lutz und Kim Willems im nobel schwarz-weißen Dress der Dressurreiter gehen hin und her, treten vor das Publikum und preisen sich und das, was sie am ATW gelernt haben, in unterschiedlicher Weise an. Sie deklamiert Bewerbungsschreiben und Danksagungen mit schüchternem, gewinnendem Lächeln. Er inszeniert sich mit Zitaten und Episoden in pseudo-spontanem Erzählton.
Sind diese Arbeiten mehr gut gemeint als gut gemacht, darf man 'Dance and Short Fiction' von Lina Hermsdorf, Christopher Felix-Hahn und Jan Rohwedder einen technisch vorzüglichen und inhaltlich spannenden Wurf von ästhetischer Reife nennen. Die Produktion hat bereits einen Preis errungen.
Die drei stellen lebende Bilder. Die meisten sind in heftiger Aktion eingefroren, einige zeigen Posen, andere zufällige Momentaufnahmen. Wir kennen diese Bilder aus Filmen, aus der Werbung, aus Fotoposen und Schnappschüssen. Es sind Stills, die Geschichten erzählen. Allein schon die griffige Auswahl wäre lobenswert.
Was jedoch die Choreographie aus anderen ähnlicher Art heraushebt, ist die tänzerische, optisch raffinierte Art des Stellens. Der erste löst sich aus dem Bild und schließt sich in einer neuen Pose hinten an. Aus den zwei verbliebenen und der neuen Pose entsteht eine veränderte Dreier-Einheit. Wenn der zweite nach vorn tritt, verändert sie sich abermals, und mit dem Dritten ist sie total anders. Es sieht aus wie eine Aneinanderreihung lebender Skulpturen, die in jedem Zustand immer vollständig sind.
Meist in völliger Stille wandert die Körperkette diagonal durch den Raum, in schnelleren Wechseln dicht an der vorderen Zuschauerreihe entlang, parallel dazu weiter hinten zurück, auf einen Kistensockel, wieder auf die Zuschauer zu und zieht sich dann am schwarzen Aushang entlang um die gesamte Bühne. Einzelbewegungen und Raumaufteilung sind perfekt, die Bilder spannend und suggestiv. Am Ende wird ein riesiger Kubus aus Plastikfolie aufgeblasen und wie eine optische Hommage an zeitraumexit durch die Tür in den Hof gezogen.