Wilhelm Tell und die Nervensägen

Der Theaterabend „97 Meter überm Meer“ gibt einen Überblick über die freie Theaterszene in Mannheim und Heidelberg

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DIE RHEINPFALZ

 

 

 

VON NICOLE HESS

 

97 Meter überm Meer liegt die Stadt Mannheim. In dieser Höhe wird viel Theater gemacht. Um eine Plattform zu schaffen, auf dem sich all das Schöne und Schräge begegnen und dem Publikum präsentieren kann, haben die Theater TiG 7 und Zeitraum-Exit zum zweiten Mal ihre Häuser geöffnet und sieben Gruppen und Solisten eingeladen. „97 Meter überm Meer“ lautete der Titel des Abends, der einen Querschnitt bot über das Theaterschaffen nicht nur in Mannheim.

 

Wie gut, dass man zu Beginn eines fünfstündigen Abends noch nicht weiß, dass im Rückblick die erste halbe Stunde der Höhepunkt gewesen sein wird. Es war der Auftritt des Augenblicks Theaters, das am Jugendkulturzentrum Forum zu Hause ist. Das Ensemble aus behinderten und nichtbehinderten jungen Menschen zwischen 16 und 27 Jahren hat sich Schillers „Wilhelm Tell“ vorgenommen, die interessanten Themen von Freiheit und Widerstand herausgefiltert und unter dem Titel „Wo bleibt Tell“ witzig und sehr modern auf die Bühne gebracht. In dem kleinen Ausschnitt, den das Publikum als Vorschau zu sehen bekam, erschoss Tell alle Nervensägen auf der Welt: Großartig. Die Premiere ist am 16. Juli.

Deutlich älter ist die Inszenierung „Wildschweine im Abendkleid“: Das Theater Oliv eröffnete mit der Groteske auf die aktuellen Verhältnisse in Deutschland die Spielzeit 2009/2010. Neu war diesmal nur, dass Boris Ben Siegel und Coralie Wolff ihre Sprechfehler – die ständig eingestreuten Worte „optimal“ und „shit“ – nicht auf einer Bühne präsentierten, sondern auf der Bar des TiG7 sitzend. Man kann das immer noch zeigen, die Zeiten sind seither ja nicht viel besser geworden.

Und das war es auch schon an klassischem Theater. Die anderen fünf Ensembles und Solokünstler zeigten Tanz, Performance und Arbeiten, die irgendwo zwischen allen Genres lagen. Es gab kein gemeinsames Thema, kuratiert wurde nichts. Teilnehmen konnte, wer sich auf die Ausschreibung schnell genug angemeldet hatte. Die beiden Tänzerinnen Dorit Rode alias funkywazabee und Özlem Zafer traten zunächst einzeln und dann gemeinsam auf, um die Kunst der Gegensätzlichkeit zu zelebrieren: schwarz und weiß, kühltechnische Bewegungen zu Visuals an der Wand und dröhnendem Elektro-Sound – und geschmeidig-fließende Hingabe zu orientalisch anmutenden Klängen.

Drei von sieben Beiträge kamen aus Heidelberg – einer Stadt, deren Meeresspiegel noch einmal 17 Meter über dem Mannheims und 18 Meter über dem Ludwigshafens liegt (von wo sich keine einzige Gruppe gemeldet hatte), was aber wohl nicht der Grund dafür ist, dass ihre Bewohner oft so deutlich eine scheinbare Überlegenheit zur Schau stellen. Nimmt man den Abend, scheint die Stadt, gemessen an der Einwohnerzahl, tatsächlich eine deutlich aktivere Theaterszene zu haben. Und auch eine deutlich experimentierfreudigere.

Die Theater- und Performancegruppe Rampig vom Haus der Jugend zeigte eine sehr freie und mit allen technischen und räumlichen Möglichkeiten spielende Inszenierung, deren Grundlage „Die Pest“ von Albert Camus war. Vier Mitglieder des Nostos Tanztheaters zeigten Szenen am Meer, zuerst solche voller Verbundenheit und Intimität und dann die Gegenstücke voller unerfüllter Sehnsucht und Gewalt. Das war so authentisch, dass man sich kurz ernste Sorgen um eine Tänzerin machen musste, die von ihrem Partner wild in Richtung Wand geschleudert wurde. Ganz leise Töne kamen von Juliane Zöllner alias Lu Kashka. Grundlage ihrer Performance, bei der sie zum Text vom Tonband agierte, war die Auseinandersetzung mit dem Marquis de Sade, an dem sich schon Peter Weiss abgearbeitet hat.

Zu sehr später Stunde zeigte schließlich Isabelle Barth, die Mitglied des Nationaltheater-Ensembles ist, unter der Regie der dort als Regieassistentin beschäftigten Nicole Schneiderbauer das alle Grenzen sprengende Projekt „Missing body“. Zum beunruhigenden Geräusch eines Taktzählers, in Kontakt mit den höchsten Höhen auf einer Leiter und kurze Zeit später auch direkt mit dem Boden, an der Schreibmaschine sitzend und unter grellem Neonlicht sinnierend, erzählte Barth die Trennungsgeschichte der niederländischen Schriftstellerin Renate Rubinstein. Und das war dann doch noch einmal ein Höhepunkt am Ende eines sehr langen Theatertages.