Unausweichliche Katastrophe

Peer Martiny liest Wilhelm Reich in der Café-Bar Riz in Mannheim

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Die Rheinpfalz

Alle in der Café-Bar Riz in Mannheim waren in lockerer Kleidung, nur einer trug Anzug mit Krawatte. Es war der "Festredner". Er trat an ein Pult, um Wilhelm Reichs, "Rede an den kleinen Mann" zu halten. Mit rhetorischen Gesten hob er an, wechselte zu intimer Nachdenklichkeit, holte zu Anklagen und Beschimpfungen aus, sammelte sich meditativ, griff abermals zu pointierter Rhetorik...
Es war ein brillantes Schauspieler-Solo mit viel Gedankenfutter und sprachlichem Schliff. Der Redner lehnte an einem hohen Barhocker, blätterte manchmal in seinem Text auf dem Pult oder nahm einen Schluck Wein.
Er heißt Peer Martiny, ist Schauspieler, Regisseur und Autor in Berlin. In Mannheim hat er sich einem breiteren Publikum durch eine 14 Tage dauernde Lesung aus Melvilles Roman "Moby Dick" im MVV-Kundenzentrum bekannt gemacht. Das war 2003 beim Festival "Do you understand?" von zeitraum_ex!t. Auch diesmal hat ihn zeitraum_ex!t nach Mannheim geholt. Der Literatur, der Performance, des Interdisziplinären wegen, wie sie das Markenzeichen dieser alternativen Kultur-Initiative sind, aber auch mit politisch orientierten Hintergedanken.
Wilhelm Reich schrieb seine "Rede an den kleinen Mann" 1946. Alles, was er aus lebenslanger Beobachtung anführt, mündet in das Dritte Reich als unausweichliche Katastrophe. Obwohl stark gekürzt, enthielt Martinys Fassung immer noch viele paraphrasierende Wiederholungen, was ja durchaus zum Stil einer wirkungsvollen Rede gehört. Der Österreicher Wilhelm Reich war Psychoanalytiker und Freud-Schüler. Ehe er in die USA emigrierte, war er in Berlin tätig. Von der Studentenbewegung der 70er Jahre wurde er als ein Stammvater der sexuellen Befreiung wiederentdeckt. Die Eckpfeiler von Reichs Pantheon heißen Jesus, Marx, Lenin und Freud. Sie sind die wahrhaft großen Männer, in ihrer Einfachheit und Geradlinigkeit missverstanden vom Millionenheer der kleinen Leute, die nur diejenigen als groß anerkennen, die genau so beschränkt sind wie sie selbst. Anklagend setzt sich Reich mit dem Massenverhalten auseinander, das Freiheit zu Nationalstaat verkleinert und Selbstverantwortung durch Geführtwerden ersetzt. Als Freudianer vermischt er soziologische und wirtschaftliche Phänomene mit Sexualverhalten. In ein Feuerwerk aus frappierend erhellenden Analysen streut er merkwürdig Unausgegorenes und Zeitgebundenes ein, das seinem Hauptanliegen einer Verschmelzung von Psychoanalyse und Sozialismus entspringt.
Von Peer Martiny in glänzender Rhetorik vorgetragen, verschwinden die Schwachstellen der Argumentation hinter einer präzisen Charakterisierung des "kleinen Mannes". Als "Kleinbürger", der nach dem Ersten Weltkrieg definitiv an die Macht gekommen ist, zieht er die Aufmerksamkeit auch zahlreicher anderer Zeitgenossen bis heute auf sich. Das Liebenswürdige, das in der Bezeichnung "kleiner Mann" steckt, hat er bei Reich verloren. Er ist eine banale Bestie, die alles Große in die eigene Kleinheit hinabzieht. Die ihm gehörende Weltherrschaft übt er nach den Gesetzen seiner verantwortungsscheuen Konturlosigkeit aus, indem er sie an seinesgleichen delegiert. Das machte Reich damals Angst und der richtige Kern, der in seinen Beobachtungen steckt, kann uns auch heute Angst machen. "Der Text passt in die Zeit", sind die Vier von zeitraum_ex!t überzeugt. "Er bietet Ansatzpunkte für intensive Gespräche". Deshalb haben sie für die Veranstaltung Kaffeehausatmosphäre und, zur dritten Rede in eigenen Räumen, ein gemeinsames Essen gewählt.

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