Die Guten ins Töpfchen

In der Ausstellung „Belebung der toten Winkel“ mit Zeichnungen anonymer Künstler überlässt zeitraumexit in Mannheim das Urteil dem Betrachter

Zeitung

Die Rheinpfalz

Seltsamer Fall: Das Kunsthaus zeitraumexit zeigt eine Ausstellung mit dem schönen Titel „Belebung der toten Winkel“. Das belebende Element sind Zeichnungen, doch wer die Urheber sind, wird nicht verraten. Ein Experiment, aber mit Hintergrund. Mit 120 Euro sind wir dabei. Soviel kostet ein Blatt. Jedes, ausnahmslos. Man kauft sein Schätzchen, ohne zu wissen,wer es gezeichnet hat. Auf der Rückseite wird das Rätsel gelöst: Bekannter Künstler oder ... ja wer denn auch. Die von Wolfgang Sautermeister via Internetaufruf  initiierte und in der Galerie in der Hafenstraße gruppenweise sortiert gehängte Ausstellung stellt die Frage nach Kunst, ihrer Qualität oder Nicht-Qualität. Und wie diese definiert wird, wenn der Urheber im Dunkeln bleibt. Einsenden durfte, wer wollte, ein Blatt, Format maximal Din A 3. Mehr wollte Sautermeister nicht vorgeben, als er die hintergründige Anfrage in die Welt schickte.
Und reichlich Material zurückbekam. Schräges, Schönes, rührend Bemühtes, frech Nachgemachtes, irgendwie haarscharf Danebenliegendes. Mal ungelenk und plump, mal raffiniert, und das Raffinierteste, bleiben wir ehrlich, ist die Hängung in Gruppen, die dem die Auswahl treffenden Kurator perfekt gelungen ist. Da wird dann auch der bescheidenste Beitrag durch die „richtige“ Nachbarschaft unziemlich aufgewertet. „Was gilt, ist nur das Bild und sein Betrachter“, lesen wir in der Ankündigung. Also Vorsicht beim Hinsehen.
Man muss es ja nicht so weit treiben wie der Anonymus, der einfach ein leeres Blatt ablieferte. Reines, unschuldiges Weiß, in dem sich, sagen wir mal, alle schon gezeichneten und noch zu zeichnenden Zeichnungen verbergen, sozusagen als Aufforderung und unendlich belastbares, wenngleich fiktives Reservoir. Oder die Zeichnungen, die einmal waren und nichtmehr sind. Herausragendes Beispiel: eine light-Version der von Robert Rauschenberg 1951 ausradierten Graphit-Zeichnung des Kollegen Willemde Kooning, mit dem in Klammern hinzugesetzten Hinweis „Kopie“.
Muss man wissen, sonst zündet die (kleine) Pointe nicht. Da ist der Kenner gefragt. Also jenes seltene Individuum, das aus dem Meer des Beliebigen den einen Schatz hebt. Wobei sich aber die Frage stellt, ob es überhaupt um Schätze, also um die rendite- oder prestigeversprechende Signatur geht. Denn, zitieren wir Margret Stuffmann, eine der besten Graphik- Kennerinnen im Lande, mit dem zu beherzigenden Satz, dass man sich beim Betrachten einer unbekannten Zeichnung um das Erkennen von Qualität zu kümmern habe und nicht um die Suche nach einem möglichst „großen Namen“; letzteres ein Leiden, von dem viele Kunsthistoriker befallen sind. Qualität sozusagen blind zu erkennen, macht den echten Kenner aus.
Und das wäre auch die Handlungsanweisung für das mit der „Belebung der toten Winkel“ (ein Genazino-Zitat) befasste Publikum. Bei zeitraumexit sind wir eben nicht bei den durch Schildchen identifizierten Alten Meistern oder einer gefälschten Moderne. Sautermeisters „Zeichnung total“ stellt die Leute einfach nackt vor die Tatsache, dass sie gar nicht wissen können, was sie zuwissen begehren. Blöde Situation? Im Gegenteil, der Spaß ist riesengroß und der mögliche Lerneffekt ebenfalls. Beides sollte man nicht durch Ratschläge stören. Deshalb wird an dieser Stelle nicht verraten, was vielleicht Sache ist. Die guten (Zeichnungen) ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen. Und manchmal ist es genau umgekehrt: Wer suchet, der findet.  Sigrid Feeser