Don Quijote, Orwell und andere Lebenskünstler
Kultur | Performance: Künstlerhaus Zeitraumexit und TiG7 zeigen erneut gemeinsam die Nachwuchsplattform „97 m überm Meer“
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Mannheim liegt siebenundneunzig Meter über dem Meeresspiegel. Und so lautet der Titel, unter dem das Theaterhaus TiG7 und zeitraumexit den Nachwuchskünstlern der Freien Szene eine Plattform bieten. Der Zuschauer kann dabei in einem sechsstündigen Marathon insgesamt zehn ganz unterschiedliche Aufführungen sehen – klassisch gespielte Stücke, Solo-Aufführungen, Tanz und Performances.
Pausen, Ortswechsel und eine in der zweiten Hälfte geöffnete Bar sorgen dafür, dass einem die Theaternacht nicht lang wird. So unterschiedlich wie die Darstellungsformen sind auch die Themen. Das Augenblick-Theater etwa hat sich der unsterblichen Geschichte von Don Quijote angenommen, jener tragischen Figur, die davon träumt, ein Ritter zu sein, als es längst keine Ritter mehr gibt. Don Quijote erscheint als vielleicht eigenwilliger, aber sympathischer Held, der seinen Traum verfolgt, obwohl ihn alle für verrückt halten, und dadurch noch im kläglich verlorenen Kampf gegen die Windmühlen Größe gewinnt.
Unterbrochen wird die Erzählung seiner Abenteuer von persönlichen Einblicken der Schauspieler. „La Mancha ist überall“, heißt das Stück – wir alle, so die Botschaft, kämpfen gegen Windmühlen und suchen nach unserer Rolle in der Welt.
Das düstere Bild einer Gesellschaft, in der Individualismus kaum noch möglich ist, zeichnet dagegen die Gruppe Theater Exil. Ihr fiktiver Staat, ironischerweise nach Thomas Morus’ Idealstaat Utopia benannt, ist ein totalitäres System, in dem es keine Freiheit gibt, der Wert des Menschen von seiner Arbeit abhängt und eine Rebellion aussichtslos erscheint. Das System von Ausbeutung, Unterdrückung und Propaganda erinnert an Orwells „1984“ und an praktisch jede Diktatur der Moderne. Wie aber kann sich ein solcher Staat halten? Weshalb gehen die unterdrückten Massen nicht auf die Barrikaden?
Das Stück, von der Gruppe als „Theaterfragment“ bezeichnet, geht auf kluge Weise den Mechanismen der Macht und der inneren Logik totalitärer Diktaturen auf den Grund. Kann es in einem solchen Staat überhaupt zu einer Revolution kommen? Die Frage bleibt offen, aber das Stück stimmt in dieser Hinsicht nicht optimistisch.
Im zweiten Teil folgen Tanz und Performance: Wie viel Wirkung man dabei mit wenig Mittel erreichen kann, macht die Darbietung „Retrospektive“ von Samuel Chanvaux und Ulrike Günter deutlich. Während auf einer Leinwand das Porträt einer älteren Frau entsteht, werden kurze Video-, vor allem aber Audioaufnahmen eingespielt. Verwandte geben einen Einblick in das Leben der Frau und sprechen über ihre Demenz. In wenigen Minuten entsteht ein Bild einer Person, dessen Facetten sich kaum in Einklang bringen lassen: Auf der einen Seite die junge, selbstbewusste Frau, auf der anderen die alte Dame mit verdämmernder Erinnerung – ein Kontrast, der nachdenklich stimmt.
Michael Abschlag