Ein Körnchen Wahrheit

"So ein Erbsenzähler!", sagen wir abfällig über einen Zeitgenossen, dessen Pedanterie und Kleingeistigkeit uns auf die Palme bringen. Engagierte Buchhalter wird es daher freuen, dass man es mit dem Zählen von Hülsenfrüchten und Getreide mittlerweile durchaus zu künstlerischer Reputation bringen kann. Exakt 82,2 Millionen Reiskörner reiht die englische Künstlerformation "Stan's Café" derzeit nämlich im Rahmen des Internationalen Festivals "Wunder der Prärie" in der Fahrzeughalle der Alten Feuerwache Mannheim auf.

Auf dem durch das Büro für Kunst zeitraum-ex!t konzipierten und ausgerichteten Festival betreiben Craig Stephens, Heather Burton und Jake Oldershaw unter der künstlerischen Leitung von James Starker Statistik der besonderen Art. Die Truppe aus Birmingham, die erst kürzlich beim Theaterfest "Theater der Welt" in Stuttgart zu Gast war, stellt ihre interaktive Bühnen-Installation unter den programmatischen Titel "Of All the People in the World (Germany)" und setzt bekannte wie unbekannte Größenverhältnisse aus Historie und Population in Reishäufchen um.

Für jeden Deutschen findet sich also ein Reiskorn auf dem Boden der Feuerwache, der die Vitrine für die auf weißem Papier schlicht gehäuften Zahlenverhältnisse darstellt. Geburtenrückgang, Eheschließungs- und Scheidungsquoten in Baden-Württemberg, die Zahl deutscher Hebammen, Fahrlehrer oder Feuerwehrleute erhalten dabei ebenso Gestalt wie die Zahl der Deutschen, die an Herzversagen starben. Wie ein riesiger Grabhügel mahnen sechs Millionen Reiskörner an den Holocaust. In einer Ladentheke mit Waage und Computern leuchtet eine riesige Erdkugel, vor der die Performer in Schlips und Arbeitskittel mit Klemmbrett und Gewichten die richtigen Verhältnisse herstellen. Drei Tage lang messen, wiegen und recherchieren die Künstler - auch auf Anregung des Publikums, bis die 82 Millionen Reiskörner ein gesellschaftspolitisches Bild der Welt, Deutschlands und Mannheims ergeben.

Ein politisches Stimmungsbild wird man sich auch am Wahlsonntag machen können, wenn "Stan's Café" die ersten Ergebnisse der Bundestagswahl in Reis aufwiegt. Zwei Körner liegen bereits gesondert am Boden, untertitelt mit Gerhard Schröder und Angela Merkel. Wer ins Töpfchen oder Kröpfchen wandert, ist künstlerisch unerheblich, denn auch die Spitzenkandidaten enden nach Abschluss der Installation mit den Wahlberechtigten gereinigt in der Tierfutterverwertung. Möge die hohe Politik wenigstens deutschem Mastvieh nicht schwer im Magen liegen. rcl