Ein Liebesdrama von außen betrachtet

Kultur Regional | Der Performance-Abend „97m überm Meer“ im Theater TIG7 und im Künstlerhaus zeitraumexit in Mannheim präsentiert die freie Szene der Region

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Die Rheinpfalz

Mannheim liegt genau 97 Meter über dem Meeresspiegel. Diese Tatsache inspirierte zum Titel eines langen Performance-Abends: Mit „97m überm Meer“ geben das Theater TIG7 und das Künstlerhaus zeitraumexit der freien Tanz- und Theaterszene der Region eine offene Bühne. Professionelle Künstler und Laienensembles präsentierten ihre aktuellen Arbeiten.

„Lassen Sie sich faszinieren und irritieren“, riet Werner Degreif in seiner musikalischen Eröffnung des Abends. Es war ein passendes Motto für die insgesamt zehn Aufführungen, zuerst auf der Bühne des TIG7, anschließend bei zeitraumexit. Einige der Performances waren politisch motiviert: Die Regisseurin Lisa Massetti von der Mannheimer Creative Factory zeigte mit „A propos ... vor den Türen Europas“ die Einwanderungswelle aus Südosteuropa aus einer anderen Perspektive. Der bulgarische Schauspieler Kyamil Topchi gab „dem Einwanderer“ Gesicht und Stimme. Dantes neun Höllenkreise fügten sich in seiner Beschreibung des politischen Systems seines Heimatlands zu einem einzigen Teufelskreis zusammen. Am Ende stand die unausgesprochene Frage im Raum: „Wer würde da nicht abhauenwollen?“
Abhauen oder gar Revoltieren steht für die Bewohner der Diktatur Utopia außer Frage. Sie haben alle Hoffnung verloren. Wer aufmuckt, der verschwindet auf Nimmerwiedersehen. Die Gruppe „Theater Exil“ aus Mannheim wirft mit ihrem Theaterfragment einen resignierten und schonungslosen Blick auf vergangene und gegenwärtige Regime.
Besonders beeindruckend war das Konzept der Hörperformance „Jalousie“ von Lina Berling und Lea Hennecke, die bereits bei Projekten von TIG7 mitgewirkt und eine Gast-Regieassistenz beim Nationaltheater absolviert haben. Beide Frauen sitzen mit dem Rücken zueinander an Schminktischen und machen sich bettfertig. Die Bühne ist im Foyer des TIG7 aufgebaut, die Zuschauer sitzen jedoch im Innenhof und beobachten das Geschehen von außen durch die Glasscheibe. Dazu lauschen sie über Kopfhörern abwechselnd den inneren Monologen von zwei Frauen, die – wie sich herausstellt – denselben Mann lieben. Die Künstlerinnen spielen anfangs mit dem voyeuristischen Reiz, lassen die Performance dann aber immermehr abgleiten in die Abgründe der intimsten Gedanken ihrer Figuren: ein physischer und psychischer Striptease.
Um Beziehungen geht es auch in der Tanzperformance „Vacant Rooms“ des Nostos Tanztheaters aus Heidelberg. Körperkontakt, Annäherung, Zweisamkeit, Abwesenheit – all diese Dinge ergründen Jeanette Bohr, Juan Pablo Corro Campos, Jonas Frey und Johannes Szilvassy mit stilistisch unterschiedlichen, doch immer intensiven Tanzpassagen.
Körperbetont und doch kopflastig ist die Performance „Headhunting Society“ des Heidelberger Duos Ricarda Walter und Jana Rudolphine. Sie stellen Begrifflichkeiten rund um den Kopf (kopflos, mit dem Kopf durch die Wand) in ihrer Performance dar, welche die Beziehung von Körper und Geist in einer modernen Gesellschaft auslotet und hinterfragt.
Faszinierend und irritierend war tatsächlich vieles, wie von Werner Degreif versprochen. Manche Performance ließ den Zuschauer nicht nur nachdenklich, sondern verwirrt zurück. Doch genau das darf Kunst. „97 m“ ist nicht nur Plattform für die freie Szene, sondern auch Diskussionsforum über das gerade Gesehene.

Olivia Kaiser