Erinnerungen und Packeis in der Spieldose

Schauspiel/Performance: Studenten von Heiner Goebbels präsentieren mit "Wilsonstraße" ihre Abschlussarbeiten im Mannheimer Kunstzentrum zeitraumexit

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Mannheimer Morgen

Von unserer Mitarbeiterin Nora Abdel Rahman

An der Justus-Liebig-Universität Gießen gibt es den Studiengang Angewandte Theaterwissenschaft, den Komponist und Regisseur Heiner Goebbels leitet. Unter seiner Obhut zeigten Künstler des Absolventenjahrgangs im Kulturhaus Zeitraumexit ihre Arbeiten. Überschrieben mit "Wilsonstraße" - nach dem US-amerikanischen Regisseur, Theater- und Videokünstler Robert Wilson -trafen fünf Werke auf ein Mannheimer Publikum.

Bei "Die Halbzarten" steigt dem Besucher Kaffeeduft in die Nase. Den Bühnenrand bevölkern Alltagsgegenstände wie eine Kaffekanne und -tasse, Handspiegel und eine Keksdose mit der Aufschrift "Kemm'sche Kuchen". Erinnerungsstücke aus einer vergangenen Zeit, die aber vielleicht doch noch in unseren Knochen steckt. Eine schillernde Hütte aus leeren Tablettenhüllen wird von Fäden gehalten. Aus ihr tönt und spricht es mit einer alten Damenstimme. Eine Öffnung gibt den Blick auf eine Puppe im Schaukelstuhl frei. Später spielen uns die stark bebrillten Performer Philipp Karau und Katharina Stephan weitere Erinnerungsfetzen aus der Vor- und Nachkriegszeit unserer Eltern und Großeltern vor. Und immer wieder aus dem Off die alte Stimme, mal lacht sie, mal holt sie Sprüche aus unserem kulturellen Gedächtnis hervor: "Mein Vater war ein großer Mann, stattlich und groß ..."

Wo beginnt, wo endet menschliche Zurechnungsfähigkeit? Das Hörstück "Woyzeck" von Boris Nikitin geht dieser Frage nach und bricht den Diskurs an allen erdenklichen Stellen akustisch auf; Büchners Text könnte aktueller nicht sein. "Alaska" ist eine Performance mit vier Spielern, die sich und den Bühnenraum in den Griff nehmen mit ihren Körpern.

An der Grenze des Ausharrens
Geht es wirklich um die Natürlichkeit der Weiten Alaskas, wie im Programmheft beschrieben? Oder darum, das Publikum ins Licht und in den Schatten zu setzen? In gegrätschter Kniebeuge verharren die Artisten, bis ihre Körper zittern, ihre Lippen beben und Schweiß zu perlen beginnt. Wann kippt der Mensch aus der Fassung, wann ist die Grenze des Ausharrens erreicht? Licht aus, Stroboskop an und vier Körper im flackernden Licht mit gewaltigem Fußgetrappel im Ansturm auf die Zuschauer und wieder zurück und wieder auf sie zu. Licht an und endlich entspannen im Applaus. Der Tänzer Enad Marouf verstrickt die Zuschauer in Bewegungsklischees von reduzierten Beckenschwüngen aus der Pop-Clip-Ästhetik bis hin zum klassischen Ballerino. Nur die bunten Luftballons, die hin und wieder mit lautem Knall zerplatzen, sorgen für ein leichtes Unwohlsein aufseiten der noch amüsierten Zuschauer. Die kleine Trink- und Verschnaufpause des Künstlers sorgt für den Schnitt: Schluss mit Lustig! Eine grotesk lachende Maske, falsch herum auf dem Kopf des Tänzers und es folgt grausiges Lachen. Da kommt die interaktive Ball-Installation "Rot Grün Blau" gerade recht, um den Geist im Spiel zu entlasten.

Wilson sagt über die Verantwortung des Künstlers, sie liege nicht darin, Antworten zu geben, sondern Fragen zu stellen. Das erfüllt die hohe Qualität der gezeigten Arbeiten der jungen Gießener Künstler.