Kammermusik extrem
György Kurtágs Kafka-Fragmente in Mannheim
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Gleich zu Beginn des ersten von Sidney Corbett verantworteten Konzertjahres der Gesellschaft für Neue Musik in Mannheim wartet dieser mit einer neuen Initiative auf. Das Eröffnungskonzert mit einem Hauptwerk der Moderne, György Kurtágs Kafka-Fragmenten, ließ der Kompositionsprofessor an der Mannheimer Musikhochschule im Künstlerhaus Zeitraumexit im Mannheimer Stadtteil Jungbusch stattfinden.
Wo sonst experimentelle künstlerische Formen erprobt werden, sucht die Gesellschaft für Neue Musik nach neuen Publikumsschichten, speziell aus der jüngeren Generation. Beim ersten Anlauf hatte Corbett Erfolg mit seinem Versuch: Die Atmosphäre war anregend und der Besucherzulauf außergewöhnlich rege.
Die aufgeführte Musik stellte dann sowohl die Ausführenden als auch an die Zuhörer exorbitante Ansprüche. Kurtágs zwischen 1985 und 1987 entstandener Zyklus für Sopran und Violine besteht aus 40 kurzen Charakterstücken, die in vier Gruppen gegliedert sind. Es handelt sich um eine mit letzter kompositorischer Konsequenz konzipierte, streng konstruierte, große Musik. Literarischer Bezugspunkt sind Tagebuch-Aufzeichnungen und Briefe Franz Kafkas, hauptsächlich an seine Geliebte Milena Jesenska. Kurtág, neben dem 2006 verstorbenen György Ligeti der bedeutendste ungarische Komponist nach dem Zweiten Weltkrieg, hat die Texte tiefgründig und facettenreich umgesetzt. Dabei herrscht äußerste Ökonomie der kompositorischen Mittel, die kompromisslose Konzentration aufs Wesentliche, ein mitunter an Anton Webern erinnernder asketischer Stil.
Kurtágs Musik enthält immer auch eine humane Botschaft, was für die Kafka-Fragmente besonders gilt. Sie gibt sich intim, wenn man will, oft verschwiegen. In den 40 Fragmenten deuten indes die heftigen, nachgerade verwegenen Ausbrüche und Aufschreie, die den stillen Tönen immer wieder entgegenstehen, auf den potenziellen Dramatiker. Dass es Kurtág gelingen soll, seinen Opernplan nach Samuel Becketts „Endspiel“ für die Salzbuger Festspiele noch fertigzukomponieren, ist sehr zu hoffen.
Absolut faszinierend sind Kurtágs Fantasie und Sensibilität, mit der er seine Klänge in ständig wechselnden neuen Konstellationen präsentiert. Kafkas Verletztheit, Sehnsüchte, Ängste und Obsessionen fanden ein klingendes Äquivalent in diesem vielschichtigen Tonkosmos. In Mannheim erklangen die Fragmente in vorbildlicher Wiedergabe. Das Duo der an der Mannheimer Musikhochschule ausgebildeten Sopranistin Caroline Melzer und der israelischen Violinistin Nurit Stark agierte mit kompromisslosem Einsatz, sehr überlegen, differenziert und mit großem Einfühlungsvermögen. Am Werk waren zwei Virtuosinnen der Moderne von hohem Rang. Vorzüglich geriet auch der Beitrag der Rezitatorin Nadine Schwitter, die Corbett dem Abend hinzugefügt hatte.
Gabor Halasz