Neues aus der Wilsonstraße
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Seit 2008 unterhält das Mannheimer Künstlerhaus zeitraumexit eine Kooperation mit dem Institut für Angewandte Theaterwissenschaft Gießen. Regelmäßig präsentieren dessen Studenten ihre Werkschau „Wilsonstraße“, benannt nach einem Gang im Institut, der seinerseits nach dem Theater- und Performance-Künstler Robert Wilson benannt ist.
In der Vergangenheit standen bislang einzelne Talente im Vordergrund der Mannheimer Schau; jetzt waren es durchweg Gruppen. Der Hauptakzent lag auf zwei experimentellen Projekten, die nicht zuletzt Einblick in den Gießener Studienalltag gaben. Das Institut für Angewandte Theaterwissenschaft gilt als die deutsche Talentschmiede für postmodernes Theater, Performance und Tanz. Mit von ihr entwickelten Ausdrucksmitteln mischt diese Avantgarde inzwischen auch die Stadt- und Staatstheater auf. Ein Beispiel dafür war das für die Schillertage erarbeitete Wallenstein-Projekt der in Gießen ausgebildeten Gruppe Rimini Protokoll.
Ausdrucksmitteln mischt diese Avantgarde inzwischen auch die Stadt- und Staatstheater auf. Ein Beispiel dafür war das für die Schillertage erarbeitete Wallenstein-Projekt der in Gießen ausgebildeten Gruppe Rimini Protokoll.
Klischeehafte Selbstinszenierung („Cheese“), mediale Objektivität (Don’t kill this Messenger“), Spielerische Ideen zur Positionierung des Ich in der Zeitgeschichte („Unser Arm gegen uns“), medial vermittelte Revolution („The Revolution will be televised“) sind kritische Analysen und naiv engagierte bis desillusioniert satirische Reaktionen auf aktuelle Schlagwörter wie „Lügenpresse“, „Krieg und Terror“, „Solidarität“ und andere.
Ästhetisch besonders gelungen war das Stück „Cheese“. Fünf Mädchen, unter ihnen die Choreografin Monica Duncan, stellen wiedererkennbare Arrangements für ein Fotoshooting. Sie gruppierten sich um, strahlten um die Wette und sangen „Cheese“ in wechselnden Tönen, hautnah an der Wirklichkeit und zugleich perfekt abstrahiert. Ihr Ansatz sei nicht so sehr eine gesellschaftskritische Aussage gewesen, sagte Monica Duncan, sondern das mittels Gestik, Mimik und Ton gestellte Bild. Sie kommt von der bildenden Kunst und ist jetzt im dritten Semester des Masterstudiengangs Choreografie und Performance. „Cheese“ ist aus dem Studienprogramm hervorgegangen, das kreatives Sich-Ausprobieren und Zusammenfinden von Gruppen einschließt.
„Unser Arm gegen uns“, als „Lehrstück-Happening“ angekündigt, war eine Spielwiese von Gießener Arbeitsansätzen. Das Publikum sollte mitspielen und tat dies mit sichtlichem Spaß an der Sache. Das ganze wirkte teils engagiert, teils lustig, trotz mittels großem Buch inszeniertem Plan ziemlich unstrukturiert und ansatzhaft. Es war ein Zuviel an gebastelten Objekten und geschriebenen Texten, denn sie fügten sich nicht zu einem Ganzen, ohne das eine ästhetische Aussage nicht auskommt. Ein Akteur rief zum Aufstand auf. Ein anderer stieg auf einen kleinen Sockel und las Thesen von Clausewitz.
Die Revolutionsgruppe führte ihre „kleinen Terrorakte“ im zeitraumexit und am Paradeplatz aus; erstere als kurze Theaterszenen, letztere als sogenannte Aktionen. Alles wurde live gestreamt zu einem „Blockbuster“, der ebenso wenig vorhanden war, wie eine Revolution, in der „Mannheim Geschichte schreibt“. Die Terroristen in weißen Kitteln und Overalls zitierten mit Verve von Brecht bis Meinhoff, stellten sich dazwischen selbst in Frage, kabbelten sich, munterten einander zu Solidarität und Glauben an die gerechte Sache auf. Sprachflut echter und kolportierter Zitate, verwackelte Bilderflut klischeehafter Szenen, bombastische Musik zwischen Blockbuster und Orff kamen in dieser medialen Politsatire dramaturgisch interessant zueinander.
Heike Marx