Revolution mit breitem Lächeln
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„Wir brauchen eine Live-Übertragung!“, ruft einer. Und nicht zu vergessen: „Wir brauchen eine Trompete!“ Dann macht sich der revolutionäre Tross auf den Weg vom Künstlerhaus zeitraumexit in die Mannheimer Ladenmeile – eine auf goldenem Thron gebettete Countdown-Uhr und jene Zuschauer im Schlepptau, die sich eingangs mit der Wahl eines roten Bonbons für eine aktive Beteiligung an der Performance „Kleine Terror Akte – The Revolution will be televised“ entschieden haben. Die Stimmung ist euphorisch, herrscht doch die Gewissheit: „Gleich wird sich alles ändern!“
Dass die Bewegtbild-Projektion ins Künstlerhaus zeitraumexit jählings abbricht, nachdem die Stadtguerilleros ihr Ziel erreicht und die Digital-Ziffern bei Null angelangt sind, mag einer technischen Panne geschuldet sein – als unvermittelt offenes Ende von „Kleine Terror Akte“ ist es fabelhaft. Die Performance bildet zugleich Abschluss der „Wilsonstraße“-Werkschau, bei der sich das Institut für Angewandte Theater-wissenschaft Gießen an zwei Abenden mit Arbeiten präsentiert, die in szenischen Projekten von Heiner Goebbels und im Masterstudiengang Choreographie und Performance von Bojana Kunst entstanden sind – oder selbst von den Theatereleven initiiert und entwickelt wurden.
Spiel mit Stadtguerilla
Bei „Kleine Terror Akte“ haben sich neun Studierende mit der „popkulturellen Bilderproduktion von revolutionären Gesten und der medialen Bilderflut von Revolution und Terror“ beschäftigt; als Ergebnis des insgesamt 48-stündigen Projektes, das in der Produktion eines fiktiven „Blockbusters“ mündet (und deren letzten drei Stunden die Aufführung im zeitraumexit markiert) erleben wir Stadtguerilla-Aktionen im Spannungsfeld öffentlicher/kommerzieller Raum, Spielszenen, die genüsslich Filme wie „Matrix“ und John Carpenders „Sie leben“ zitieren; Auftritte des RAF-Trios Baader, Meinhof, Ensslin und Zigarren-schmauchende Guerilleros, die vor Zimmerpflanzen-Kulisse über die Bedeutung Mannheims als Shopping-Standort dozieren. „Kleine Terror Akte“ bleibt konzeptionsbedingt nicht ohne dramaturgische Längen (etwa beim ersten Wechsel einer Aktivisten-Gruppe vom Theater in die Fußgängerzone), ist aber unterm breiten Strich ein aufregend schillerndes multimediales Bravourstück.
Bertold Brechts zwischen 1926 und 1931 verfasstes „Fatzer“-Fragment bildet am Vorabend die Grundlage von „Unser Arm gegen uns!“ – ein „Lehrstück-Happening“, das gleichsam in Gestalt eines interaktiven, theatralen Gesellschaftsspiels daherkommt (gemäß der Maxime „Mach es selber!“). Hier können die Zuschauer nach Gusto aktiv werden, sei es als Spielleiter, Darsteller, Kaffeekoch oder Licht-Signalgeber und in bester Wimmelbild-Manier den gewaltigen Fundus an Objet-trouvé-Requisiten verschieben. Das hat durchaus Witz und künstlerischen Reiz, streift aber in seiner übergeordneten Kleinteiligkeit (und bei gut zwei Stunden Dauer) auch die Grenzen zur allzu quirligen Unüber-schaubarkeit.
Tanz und Nachrichten
Deutlich kompakter gerät zuvor „Don’t Kill This Messenger!“, eine 45-Minuten-Produktion in der Gregor Glogowski und Maria Tsitroudi als Erzähler, Performer und Tänzer (Musik und Sound: Johannes Van Bebber) durchaus ansprechend und mittels vielschichtiger Perspektiven-Analyse die Rolle des Boten und die vermeintliche Objektivität von Nachrichten verhandeln. Unser Sympathie-Sieger der „Wilsonstraße“-Werkschau kommt sogar noch schlanker daher: Gerade mal 15 Minuten dauert „Cheese“, eine Performance in der sich fünf Schauspielerinnen unter chorischen „Cheese“-Gesängen und hochgradig werbetauglichem Lächeln mit launiger Eleganz für imaginäre Gruppenfoto-Aufnahmen in Positur werfen (Konzept und Choreografie: Monica Duncan); mit dabei sind Posen-Klassiker wie der Politiker-Handschlag und das Vielsagend-in-die-Ferne-Schauen. Kurz und schlicht: Großartig!
Die Werkschau „Wilsonstraße“
• „Wilsonstraße“ ist eine Werkschau von Studenten des Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft (ATW) der Justus-Liebig- Universität Gießen.
• 2009 haben dessen Studenten, kuratiert von Institutsleiter Heiner Goebbels, ihre neuesten Arbeiten erstmals am Mannheimer Künstlerhaus zeitraumexit präsentiert.
• Seitdem sind sie dort regelmäßig zu Gast. „Wilsonstraße“ verweist auf den nach dem US-amerikanischen Theatermacher Robert Wilson benannten Flur des Instituts.
• Zu den ATW-Absolventen zählen bekannte Performance-Kollektive und Theatermacher wir Rimini-Protokoll, She She Pop, Monstertruck oder René Pollesch.
Martin Vögele