Schraffuren mit flinkem Strich

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Mannheimer Morgen

Kunst: Das Mannheimer Künstlerhaus Zeitraumexit zeigt Zeichnungen ohne den Namen der Künstler – ein spannendes Experiment

Wenn die Sonne durch die großen Fensterscheiben im Mannheimer Künstlerhaus zeitraumexit dringt, beleuchtet sie zart hingehauchte Schatten auf einem DIN A 4-Blatt. Die Zeichnung einer Häuserreihe scheint gerade erst begonnen, so reduziert deutet sie architektonische Linien und Schraffuren an. Sichtbares und (fast) Unsichtbares finden zusammen, und mancher Betrachter mag davor verweilen, schauen und sich in eine unwirkliche Landschaft hineinversetzen.

Entscheidungen des Betrachters

Wo diese ist, wird nicht erklärt. Auch nicht, wer die Szene zeichnete. In der Ausstellung "Belebung der toten Winkel" sind Titel, Alter, Biografie oder Profession verpönt. Der Kurator Wolfgang Sautermeister belegt nichts, deutet nichts. Selbst ob das Blatt Kunst oder Nichtkunst ist, obliegt einzig und allein der Entscheidung des Betrachters. Nur in dessen Augen muss es bestehen. Sautermeisters Idee, durch die Anonymität der Künstler die Regeln des Kunstmarktes zu kippen, ist zwar nicht ganz neu, aber alle Tage wird einem das nicht geboten. Und faszinierend ist es allemal. Wer durch die Ausstellung streift, um sich die insgesamt 130 Zeichnungen anzuschauen, findet eine achtbar feine Sammlung.
Da sind Landschaften mit flinkem Strich aufs Blatt geworfen und geben unser Weltbild wieder, oder ausgeklügelte Szenen, die an Historienmalereien erinnern. Ein anderes Mal werden Geschichten und Fabeln erzählt, mit ganz feinen Konturen und poetischem Inhalt, karikaturistische Szenen entfaltet oder Stillleben reizvoll neu entworfen. Kinderzeichnungen (trügt da etwa der Eindruck?) hängen neben Porträts, die aus dichtem Liniengewirr an die Oberfläche drängen, die in einem Zug gestaltet sind oder in fotorealistischer Form ihre Eindrücke hinterlassen.
Diese Vielfalt an Ideen und die überragend sichere Ausführung ist beachtlich. Schemenhafte oder bis zum Rand des Blattes ausgemalte, kraftvolle Beobachtungen, zaghafte Studien, voyeuristische Einblicke in intime Szenerien, all das sind sehenswerte Stücke. Wer nun hofft, der Preis ließe letztlich auf Qualität schließen, der irrt. Jedes Exponat gibt es zum Einheitspreis von 120 Euro. So bleibt: Sich selbst auf seinen künstlerischen Gusto zu verlassen. Für Aussteller und Betrachter ein spannendes Experiment!

Helga Köbler-Stählin