Akzeptierte Formen der Hochstapelei

Improvisationsstück "Tell Me Lies" in Mannheims Exit-Ausgangspunkt-Theater

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Mannheimer Morgen

Von unserem Mitarbeiter Mike Seifert

Jeder tut es. Ohne Ausnahme. Politiker metierbedingt, Schauspieler von Berufs wegen, die Dichter wie gedruckt: Wir lügen einander die Hucke voll, weil es unsere Natur ist. Es dient dem Existenzkampf allen organischen Lebens. Raubtiere tarnen und täuschen, Beutetiere schlagen Haken, nicht mal Blumen sprechen die Wahrheit, sondern lassen Insekten hinterlistig in die Venusfliegenfalle tappen. Wer behauptet, stets die Wahrheit zu sagen, dem glaubt man nicht, er lügt wenigstens durch Weglassen. Wir wollen es ja so: "Tell Me Lies - Lüg mich an", fleht der Titel eines Stücks im Exit-Ausgangspunkt-Theater, das die Frage stellt: Wer lügt am besten?

Da hat Ghorban Moinzadeh freilich einen schweren Stand, denn Frauen lügen grundsätzlich besser, geschickter, glaubwürdiger. Na gut, wenn Kathrin Höhne - Lügen haben lange Beine - sich als heimliche Geliebte von Angela Merkel outet, dann kauft ihr das keiner ab, weil man der Kanzlerin so einen guten Geschmack nicht zutraut. Als Moinzadeh kontert, er sei drei Jahre mit Madonna liiert gewesen, entsteht aufgeregtes Getuschel, weil witzigerweise, so stellt sich heraus, eine Dame unter den Vorpremierengästen tatsächlich so heißt. "Ich liebe meinen Job, ich liebe meinen Mann, ich bin rundum . . ." Yvette Coetzee beendet den Satz gar nicht: ein Bluff.

Aber welche Antworten sind wirklich ehrlich, wenn die drei charmanten Darsteller mehrmals von Regisseurin Elke Schmid ganz persönliche Fragen gestellt bekommen und eigentlich nichts als die volle Wahrheit sagen sollen? Coetzee erzählt hier eine der schönsten Geschichten darüber, warum jemand zur Bühne wollte; es wäre glatt schade, wenn sie nicht stimmte. Wiederholen wird sie die nicht, auch Höhne wird bei keiner weiteren Vorstellung provokant formulieren: "Ich habe schon zehnmal abgetrieben, ich halte ganz und gar nichts von Verhütung." Denn nur Anfang und Schluss von "Tell Me Lies" liegen fest, alles andere ist jeden Tag frisch improvisiert und reines Stegreifspiel.

"Fokussierte Spontaneität durch trainierte Impulsarbeit" heißt das etwas kopfert im Ex!t-Jargon, aber Hauptsache, es bereitet Spaß und hält das Hirn auf Trab. So wie auch die Schauspieler, irgendwo zwischen schnellem Schritt und halbem Galopp, über die Spielfläche und um die Gäste herumschwirren, vor den eigenen Flunkereien flüchten, bis sie statuenhaft verharren und neuen Schwindel auftischen.

Mehr "Handlung" hat's nicht, die würde der Inszenierung eh zuwiderlaufen, weil Taten meist wahrhaftiger sind als bloße Lippenbekenntnisse. Genau darauf aber kommt es an: auf Worte, die Lug und Trug sein müssen in einer Welt, die Höflichkeit, Wohlverhalten, gute Manieren und Diplomatie als "akzeptierte Formen der Hochstapelei" betrachtet. Die regiert überall - sogar im Gericht zeigen Roben und Rituale "eine gewisse Schwäche für das Schauspiel". Und sie bleibt "zeitlos attraktiv" - ganz großes Indianerehrenwort.

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