Aus der Papiertonne gesammeltes Schicksal
Freie Szene: René Arnold berührt in der Reihe Schwindelfrei mit der Produktion "Harry L." bei zeitraumexit
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Von unserem Mitarbeiter Dennis Baranski
In einer Papiermülltonne begegnet René Arnold dem recyclingfähigen Nachlass von Harry L. und stößt auf eine weitgehend schmuck- und glücklose Biografie. Der anhand zahlreicher Fotos und Dokumente rekonstruierte Lebenslauf lässt keine Zweifel: Das Spiel, eben jener Moment, in dem wir nach Schiller erst ganz Mensch werden, kam hier deutlich zu kurz. Im Rahmen der freien Theatertage "Schwindelfrei" konfrontiert "Harry L. - eine Auflösung" das dröge Einsiedlerdasein mit spielerischen Elementen.
Rosafarbene Balletteleven purzeln unbeholfen-vergnüglich zu Bachs "goldberg-Variationen" durch den zeitraumexit (Piano: Andrea Marie Baiocchi). Sie kontrastieren die von bedrückender Einsamkeit zeugenden Lichtbildprojektionen. Eine liebliche Märchenerzählerin (Susanne Plassmann) ergänzt das Gesehene mit Hintergründen und Fakten. Nachkriegsjahre und Hochzeit, Polizeidienst und Scheidung, Frühverrentung und Tod - die Zeugnisse erzählen das unauffällige Dasein minuziös nach. Ebenso bezeichnend ist der einzige gefundene Tonträger: Von der Lippes "Guten Morgen liebe Sorgen". Doch nicht mit der besungenen Sorge wird Harry hier verknüpft. Bachs Hoffnung ist es, die sich in seinem letzten Fluchtpunkt auftut - der Modelleisenbahn. Diese entwickelt, in Kombination mit den maßstabsgetreu perfektionierten Kinder-Standardtänzern, eine groteske Szenerie - ein beklemmendes Spiel mit der überbordenden Einsamkeit. Erst eine eigeschobene Traumsequenz, Seligkeit in der Modell-Idylle versprechend, vermag die Tristesse aufzuhellen. Ein durchweg gelungener Abend, der tief anrührt. Als Mond und Sterne über den spielenden Kindern aufgehen, bestehen keine Bedenken mehr: Man entlässt den Verstorbenen nicht in die Dunkelheit, sondern in seine glücklichsten Träume.
Foto: Peter Empl
Susanne Plassmann / Tänzerinnen des Dance Point Ludwigshafen