Gruselgolgatha und Probleme der Jugend
Die Mannheimer Künstlergruppe Zeitraumexit feiert das Festival "Wilsonstraße" mit Performance-Kunst
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VON HEIKE MARX
Das Festival „Wilsonstraße“ bei Zeitraumexit in Mannheim hat an zwei langen Abenden Einblick in Projekte von Studenten des Instituts für angewandte Theaterwissenschaft (ATW) an der Justus-Liebig-Universität Gießen gegeben. Sprechstücke, Tanzstücke und eine Installation zeigten die Bandbreite der interdisziplinären Ausrichtung des Instituts, das als Schmiede deutscher Performance-Kunst gilt.
Es wurde 1982 gegründet und bietet seit 2010 auch ein Masterstudium für Choreographie und Performance an. Das üblicherweise rein theoretische Fach Theaterwissenschaft wird in praxis tauglicher Form vermittelt. Dabei werden auch Bühnenstücke erarbeitet, an denen vom Text über Darstellung und Ausstattung bis zur technischen Einrichtung alles von den Studenten gemacht wird. Das Institut unterhält zahlreiche Partnerschaften, darunter zu zeitraumexit. „Wilsonstraße“ heißt der Flur des Instituts. Aus Protest gegen eine nach einem amerikanischen General Wilson benannte Straße in Gießen nennen die Studenten ihn nach dem Namen des Regisseurs und Performancekünstlers Robert Wilson. Der Ausstellungsraum von Zeitraumexit war beeindruckend und auch bedrückend von einer Installation besetzt, die wegen ihrer quasi galaktischen Ausmaße zu Recht Galaktikon heißt. Sie ist das Master-Abschlussprojekt eines zehnköpfigen Teams. Man betritt eine weiße, mit menschlichen Torsi vollgestopfte Fabrikhalle. Die Torsi sind zu Haufen zusammengeworfen, zu Gruselgolgathas auf Stangen aufgesteckt, hintereinander aufgehängt wie Tierkadaver imSchlachthaus. Manche liegen weggeworfen herum. Zwischen ihnen ist das Handwerkszeug aufgestellt, mit dem sie gemacht wurden: ein Tisch und eine Wanne voll weißer Farbe, Pinsel, Spachtel, Farbtuben, Kleisterdosen, Lumpenhaufen. Die Torsi sind aus Shirts geformt, die mittels Farbe, Kleister und Harzen auf Volumen gebracht und gehärtet wurden. Das Ganze ist eine Fleißarbeit von monströsen Dimensionen, negativ emotional in der Anmutung und theatralisch in der Wirkung. Es geht um Produktion und Verwertung von menschlichen Körpern und Körperbildern, sagen die Macher. Man erkennt die optische Wucht der Masse, man spürt ihre uniforme Vervielfältigung als Beklemmung.
„Der souveräne Mensch – warum Juwelen glänzen und Kieselsteine grau sind“ stammt von einem Dreierteam. Es ist ausgewählt, beim diesjährigen Wettbewerb des Hamburger Thalia Theaters, zu dem die 13 deutschsprachigen staatlichen Regieschulen eingeladen werden, die ATW zu repräsentieren. Der Titel nimmt sich modernistisch manieriert aus, aber das Stück ist schlüssig strukturiert. Führender Kopf ist Kim Willems, der bereits vor zwei Jahren beim „Wilsonstraße“-Festival von Zeitraumexit aufgetreten ist. Seinen da schon zu beobachtenden Antagonismus von Räsonieren und Träumen, Etwas-Sein und Etwas-Hermachen hat er geschärft und verfeinert. Weißgewandet, im Tonfall zwischen cool und schwärmerisch, erinnert er ein wenig an den Jüngling à la Werther, und es geht ihm auch um das klassische Jugendproblem, sich in der Gesellschaft zu positionieren. In blassen Worten und genau beobachteten Gesten beschreibt er, wie die da oben es schaffen, so souverän zu sein. Er redet und redet in einem Ton der Komplizenschaft mit dem Publikum. Doch dann kommt das Leben – hier eine weiße Fläche mit kahlen Bäumchen, auf der zwei schwarze Gestalten mit roten Fuchsmasken in kleinen Tassen Kaffee servieren – und er reagiert nur noch stumm. Die Füchse richten ein hohes Pult auf, von dem herab er dann wieder cool doziert; die Gesten dazu führen nun sie aus.
„Die kleine Freiheit – vielleicht“ ist die Abschlussarbeit eines Teams um Stephan Dorn und Falk Rößler. Sehr lang, mit spaßigen Einfällen und Performances aller Art überfrachtet, gewollt schräg, nicht ganz so gewollt weltanschaulich zerrissen, folgt die Performance dem Tenor: das Leben ist Cabaret.