Träume aus der Garage

Von der Kulturfabrik in der Provinz zum großen Ruhm: Francois Tanguy und sein Théâtre du Radeau aus Le Mans

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Einige deutsche Theatermacher kennen ihn. Manche schätzen ihn, Klaus Michael Grüber zum Beispiel. Und eine Regisseurin wollte ihn gar nach Deutschland locken. Vor einigen Jahren lud Andrea Breth ihn ein, an der Berliner Schaubühne zu inszenieren – er lehnte ab. Francois Tanguy ist hierzulande ein Unbekannter, obwohl immer wieder Aufführungen von ihm gezeigt wurden, in Hamburg, München, Mannheim oder Berlin. Ein Künstler für eine Minderheit. Das ist in Frankreich ganz anders. Mit seinen Produktionen gastiert er in allen großen Städten oder präsentiert sie bei den renommierten Festivals wie jetzt beim Festival d’Automne in Paris. Die Aufmerksamkeit freut ihn, aber eigentlich scheut er Öffentlichkeit und Trubel. Er will in Ruhe arbeiten und sich Zeit lassen. Viel Zeit.
Siebenundvierzig Jahre alt, kennt Tanguy eigentlich nur ein Theater, sein Theater, an dem er seit 23 Jahren ohne Unterbrechung arbeitet: das Théâtre du Radeau in Le Mans. Es gehört – als wichtigste Institution zur Fonderie von Le Mans, einem Kulturzentrum, in dem Tanguy andere Kompanien spielen und tanzen lässt, Filme zeigt, Konzerte organisiert, Lesungen, Vorträge und Diskussionen anbietet. La Fonderie, so beschreibt er dieses Unikum, sei Fabrik, Laboratorium, Hafen und „eigentlich eine Garage“, allerdings eine, die 4000 Quadratmeter groß ist.
Neben dieser Kunstgarage mit Vortragssälen, Gästezimmern, Speisesälen und Küche steht ein Zelt. La Tente. Ein großes, rechteckiges mit Giebeldach, in dem Francois Tanguy probt und spielt, mit dem er auf Reisen geht und in dem er während der meist halbjährlichen Entwicklungs- und Probenzeit seiner Stücke auch lebt und schläft. In den letzten Wochen stand das Zelt am Stadtrand von Toulouse, wo heute noch einige Ruinen von einem römischen Theater zeugen.

Dort begrüßte mich Tanguy. Er hat Schwierigkeiten auf der kleinen Anrichte im Vorraum eine saubere Tasse zu finden. Überall schmutzige Stäbchen in Reisnäpfen, Zigarettenasche auf Papptellern, halb volle Rotweingläser und eine Spüle mit dreckigem Geschirr. Er findet bald, was er sucht, doch Zeit für ein Gespräch hat er nicht. Vor 14 Zuhörern präsentiert er am Nachmittag im kalten Zelt einen Freund, den Autor Alain Gheerbrant, dessen Dictionnaire des symboles auch den Weg nach Deutschland gefunden hat. Ein liebenswürdiges Rendezvous, keine professionelle Buchpräsentation. Eine Improvisation.

In Tanguys Inszenierungen ist nichts improvisiert. Sechs Monate lang sucht er nach Texten, Musik, Raum- und Lichtlösungen. Vorlage für seine Abende ist schon seit Jahren kein Drama mehr; ganz selten nur hat er sich früher an Stücke gewagt: einmal Shakespeares Sommernachtstraum, einmal Molières Don Juan, einmal Büchners Woyzeck. Heute steht am Anfang immer die Suche. An einem riesigen Tisch versammeln sich die Schauspieler – bei seinem jüngsten Stück Coda sind es sieben -, dazu der für den Sound zuständige Matthieu Oriol und Tanguy selbst. Vor und neben sich: Stapel von Büchern und massenhaft CDs. Eine „Polyphonie der Texte und Töne“ sucht Tanguy für den perfekten Abend. Er mag Lyrik; und er mag philosophische Texte, selbst im Gespräch zitiert er immer wieder Gilles Deleuze. Und Bach ist ihm ein Muss in jeder Produktion: „Ohne diesen Komponisten geht gar nichts. Verdi benutze ich eher, um ihn zu kompromittieren“.

In den 70 Minuten von Coda gibt es Verse aus Hölderlin Empedokles, ein Gedicht des Lukrez, Kafka- und Artaud-Fragmente, Ausschnitte aus Dantes Paradies. Dazu erklingt Musik – die kürzeste Einspielung aus Verdis Sizilianische Vesper dauert 24 Sekunden, die längste aus Pendereckis Oper Die Teufel von Loudon 8 Minuten und 15 Sekunden, daneben Kompositionen von Bialas, Cerha, Rihm, Händel, Verdi – und Bach. Tanguy erzählt von Begehren, von Liebe und vom Tod. Bilder wie von Magritte inszeniert er in dem ebenerdigen Raum, vor dem eine kleine Tribüne aus sieben Sitzbänken sich erhebt; Tableaux, die an die Choreographie Tadeusz Kantors und die Filme von Tarkovski erinnern – nur sind die Bewegungsabläufe und Lichtstimmungen Tanguys stärker. Weil er – anders als Kantor und damit Robert Wilson weit ähnlicher – nichts dem Zufall überlässt.

Francois Tanguy will auch mit Coda – seinem Opus 13 für das Théatre du Radeau – keine Geschichte erzählen: „Ich habe kein Thema. Meine Aufführungen sind nicht da, wenn ich mit der Arbeit beginne. Bei mir tun sich Gedächtnis, Erfahrung und Emotionen zusammen, und daraus entsteht etwas“.

Es ist kein Zufall, dass Franz Kafka zu Tanguys Lieblingsautoren gehört. Wie der Dichter, der seinen Schaffensprozess beschrieb als „Eingebungen der Nacht“, erfindet der französische Regisseur Träume, zärtliche Liebesträume und grauenvolle Nachtmahre. Männer, mal in weißen Röcken, mal im Anzug, suchen Frauen – und sind, da sie keine finden, manchmal zufrieden, nein: glücklich, wenn sie mit einer Kleiderpuppe tanzen, flirten können. Die Schauspieler-Tänzer bewegen sich in einem unwirklichen Raum, der weniger gebildet wird von den Wänden, die geräuschlos immer neue Fluchten bilden, als von Tanguys Lichtregie. Er malt Stimmungen ohne direktes Licht von vorn, nur mit Scheinwerfern, die alle in den Seitennischen untergebracht sind. Und verunsichert den Zuschauer. Plötzlich sieht er sich in Kafkas dunkler Welt, in der die eingeschlossenen Menschen nichts wahrnehmen als das Schwarze und den Untergang. Oder in Dantes Paradies. Oder er schließt sich Lukrez’ hoffnungsvollem Sehnen an, dass der, der sich die Natur genau besieht, das Licht entdecken wird, das Grünen, das Leben.

Coda ist ein Traumspiel, geprägt von einer großen Ruhe, trotz der Musik, trotz vieler nicht miteinander verknüpfter literarischer Zitate. Geprägt auch von einer extremen Langsamkeit. Die Aufführung, die doch aus verschiedenen Szenen besteht, bleibt als ein Kontinuum, als eine einzige Bildsequenz in Erinnerung. Eine, die sich unmerklich verändert und auf lange Zeit verstört.

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