Unbemerkt verstorben

René Arnold hat in Berlin Mülleimer durchforstet und bringt mit zeitraumexit eine Lebensgeschichte auf die Bühne: "Harry L. - eine Auflösung"

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Ästhetische Erziehung - Festivalzeitung Nr. 07

Harry L.? Wer ist Harry L.? Harry Potter jedenfalls nicht. Denn in seinem Leben kommen keine bösen Voldemorts, keine großen Heldentaten und erst recht keine Magie vor. Denn Harry L. führte ein völlig abenteuerfreies, alltägliches Leben als Eisenbahnromantiker. Gefunden hat René Arnold dieses Leben im Mülleimer vor seinem Berliner Haus als Nachlass des unbemerkt verstorbenen Harry L., der für keinen sonst mehr etwas bedeutete.
Ein Kinderballett in Tütüs, das hinter bunten Luftballons herjagt, vor einer idyllischen Familienbildwölkchenprojektion. Dann stellt sich eine Erzählerin (Susanne Plassmann) im typischen Dienstleistungs-Look in die Mitte der Bühne und erzählt von Harry L.s Leben. Harry L. wiederum taucht im ganzen Stück nicht als agierende Person auf. Nur in den Worten der Erzählerin und in den Nachlass-Bildern, die immer im Dreierpack an die Wand geworfen werden, lebt er. Dort sieht man seine Spielzeugeisenbahnwelt und Gartenzwergsammlung. Harry selbst im Jogginganzug mit nacktem Bierbauch. Durchbrochen wird diese Diavorstellung immer wieder von der bunten tanzenden Kindertruppe und von Piano-Intermezzi (Andrea Marie Baiocchi). René Arnolds Stück lebt von diesem Kontrast. Kinder als Metapher für Entwicklung und offene Zukunft auf der einen, Hundedressureinlage und abgerichtete Kindertänzer auf der anderen Seite. Harry L.s dokumentiertes Leben: zwanghaft rührende Eintönigkeit. Nur eine Schallplatte befindet sich in Harry L.s Nachlass. Jürgen von der Lippes "Guten Morgen Liebe Sorgen". Die freundliche Erzählerin braut sich vor einem Overheadprojektor auf und vergleicht den Songtext mit Bachs Goldbergvariationen. Ergebnis: In Lippes Text steht die Sorge im Vordergrund, bei Bach ist durch die Bariation Hoffnung gegeben. Eine (schul)meisterliche Veranschaulichung der Eintönigkeit von Harry L.s Leben, die auf mehreren Ebenen Fragen aufwirft: Was wäre, wenn Harrys Leben anders verlaufen wäre? Hat René Arnold das Leben von Harry L. wirklich erfasst, oder spielt er buchstäblich damit? Dient Harrys langweiliges Dasein nur als "Kontrapunkt zu Schillers Spieltheorie", wie das Programmheft behauptet? Tatsächlich erzählt Arnold mit sparsamen Mitteln eine bewegende Geschichte. In ihr rückt der reale Harry L. zunehmend in den Hintergrund und macht einer grundsätzlichen und bewegenden Frage platz: Wie wollen wir leben? [Judith Kärn]

Foto: Peter Empl
Andrea Marie Baiocchi / Sascha Korn und Lisa Marie Bauer (TSC Saltatio Neustadt)

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