Wohlfühleuropa für alle

Die Theatergruppe Interrobang mit ihrer Performance "Preenacting Europe" bei Zeitraumexit in Mannheim

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Die Rheinpfalz

Politisch, intelligent, mitreißend, bühnenstark ist „Preenacting Europe“ von Interrobang. In der Performance geht es um die (Mit)Gestaltung der Utopie eines künftigen Europas. Interrobang gastierte damit bei Zeitraumexit in Mannheim. Mit einer anderen Produktion war die Gruppe auch beim Heidelberger Stückemarkt eingeladen.

Postdramatik mit performativen und partizipativen Theaterformen sind auf dem Vormarsch, doch wegen mangelnder Bühnentauglichkeit hat das nicht immer eine Zukunft. „Preenacting Europe“ dagegen verbindet eine Theaterstruktur mit Ort, Handlung und Figuren mit der Debatte eines aktuellen Themas. Die Zuschauer sind auch Figuren der Handlung und steuern mit ihren Vorgaben die Improvisationen der Darsteller. So werden politische Prozesse spannend, überzeichnend und um der Deutlichkeit willen auch reduzierend abgebildet. Das fesselt auf unterschiedlichen Ebenen der Betrachtung und kann auch funktionieren, wenn es die Produktion über ein Insiderpublikum hinaus schafft.

Europa hat ein Gesicht: Es ist ein gebeamter Flickenteppich aus den Nationalstaaten der Mitglieder, die nach Größe und geografischer Lage ziemlich korrekt angeordnet sind. In entscheidenden Momenten sehen die Zuschauer wie in einem Spiegel sich selbst darin sitzen. Europa hat auch eine Musik, die hochfliegend oder niederschmetternd ist. Die Zuschauer äußern ihre Stimmungslage per Akklamation. In Mannheim lagen die Euphoriker weit vor den Skeptikern. Zum Wahlkampf treten an: Kandidatin Gelb (Nina Tecklenburg) für die „Europäische Schwarmunion“, Kandidat Blau (Till Müller-Klug) für die „Lottokratische Republik Europa“, Kandidat Rot (Lajos Talamonti) für die „Postdramatische Immunion“. Zu sieben europäischen Hauptproblemen stellen sie ihre Lösungsvorschläge vor. So unterschiedlich diese scheinen, streben sie im Grunde gleiches Wohlfühleuropa an. Gelb will es mit Schwarm-intelligenz erreichen. Blau will Chancengleichheit und Gerechtigkeit per Zufall schaffen. Rot will die Völker gegen ihre historischen Traumata immunisieren.

Links sitzt die europäische Schiedskommission, die kalt und bürokratisch alles regelt und auf die Waage legt (Elisabeth Linding). Rechts sitzt der Simultandolmetscher (Flavio Ribeiro) für solche, die das Geschehen per Kopfhörer auf Englisch verfolgen wollen. Konzept und Realisierung sind mit zynischen Verweisen gespickt, aber das Ganze ist keine Satire, sondern ein engagiertes Planspiel. Darin liegt sein Charme. Wenn die Regierung gewählt ist, soll sie ihre Konzepte umsetzen. Dafür muss sie sich immer höhere Summen von den Zuschauern genehmigen lassen und in kürzester Zeit einsammeln. Aber entweder ist kein Geld mehr da oder die Opposition stellt einen Misstrauensantrag. Denn alle Lösungsansätze stürzen Europa in die Krise. Frankreich und Griechenland – Feuer mit Donnergepolter in den Feldern der Nationalfarben – sind schon raus.

Drei Handlungsstränge sind möglich, die Menge teilimprovisierter Details ist riesig. Bei der ersten von zwei Zeitraumexit-Aufführungen gab es eine knappe Mehrheit für Rot. Schon bei der ersten Maßnahme, der aus gegebenem Anlass vorgezogenen Aufnahme von Flüchtlingen, stellte sich die Opposition quer, obwohl deren Vorschläge genau so unrealistisch waren wie die „Börse“, an der die Mannheimer ihren Flüchtling einholen und kostenfrei bei sich unterbringen sollten. Blau wollte ein „Flüchtlings-Art-Hotel“, Gelb die leerstehenden Dachgeschosse ausbauen. Mangels Migrant aus dem Publikum musste Ensemblemitglied Flavio für ein Interview herhalten. Das enthusiastische junge Publikum überschlug sich im Geldausgeben und bestätigte die Regierung nahezu automatisch. Kapriziöses Spiel oder Selbstoffenbarung – das ist die Frage.

Heike Marx