/ Cinema Quadrat / Film / deutsch / ab 15 /
"Als mir mein Vater 1984 kommentarlos seine Kriegstagebücher zuschickte, gerieten meine Gefühle völlig durcheinander", berichtet Christoph Boekel in seinem Film. “Zuerst war ich erstaunt und neugierig, dann verwundert und schließlich jagten sich Empörung, Mitgefühl, Entsetzen und Traurigkeit. Ich empfand Scham über den niedergeschriebenen Verrat meines Vaters an den Ideen des Humanismus – und ich schämte mich meiner eigenen Anmaßung. Zugleich begriff ich aber auch, dass mein Vater – ohne sich zu schonen – mir ein weitreichendes, ja fast unglaubliches Angebot gemacht hatte.”
In seinem Film folgt der Sohn seinem Vater fast ein halbes Jahrhundert später durch die Sowjetunion – die Ukraine und Russland. Er besucht Dörfer und Städte, durch die der Vater marschierte, findet Gefechtslöcher und Unterstände, in denen er zitterte, hungerte und fror und gleichzeitig ideologisch verbrämte Versuche unternahm, dem Krieg einen heroischen Sinn zuzuschreiben.
Und der Sohn spricht mit den Überlebenden, lässt sich ihre Geschichten vom Krieg erzählen. Die, die seinem Vater begegnet sein könnten, berichten – immer noch unter Tränen – von unglaublichen Grausamkeiten, weinen über den Verlust ihrer Gatten, Kinder, Eltern, zeigen ihm Gräber, an denen der Vater vielleicht mitschuldig war und erinnern sich dennoch auch an solche Deutsche, die ihre Menschlichkeit nicht der Raserei des Krieges opferten. Dem altgewordenen Vater, den drängenden Fragen seines Sohnes gegenüber um Ehrlichkeit bemüht, lässt die Frage nach deutscher Schuld – auch nach der eigenen – weniger und weniger Ruhe, je älter er wird. Viele Rechtfertigungsmodelle hat er ausgeklügelt, um sich zu entlasten, viele Ressentiments sind immer noch sichtbar. Stärker aber wird mit den Jahren die Scham über den eigenen Opportunismus und die Verführbarkeit, die Verzweiflung über die Ohnmacht des Einzelnen gegenüber einem totalitären System, Gewissensbisse gegenüber den Opfern. Immer noch verfolgt ihn der Krieg bis in die Träume. Aber den Freispruch, nach dem er sich sehnt, auf den er nicht zu hoffen wagt und den er sich selbst nicht gestattet, kann ihm auch die schonungslose Auseinandersetzung mit dem Sohn nicht gewähren.
Christoph Boekel macht sich in seinem Film nicht die "Gnade der späten Geburt" zunutze, um mit seinem Vater abzurechnen. Er spürt vielmehr die Verantwortung seiner Generation, aus der Geschichte lernen zu müssen und begreift die ernsthafte Auseinandersetzung mit seinem Vater als historisch notwendige Gemeinschaftsarbeit zweier Generationen.
"Die Toten werden nicht wieder lebendig, aber die Lebenden brauchen Verständigung, Versöhnung und Frieden", sagt der Autor. "Dazu muss man das Gegenwärtige kennenlernen, dazu darf man das Vergangene nicht verdrängen".
Buch und Regie: Christoph Boekel. Kamera: Wladimir Beljaew, Rainer Komers. Schnitt: Sylvia Regelin. Produktion: Eikon-Film mit ZDF 1987-89. In Zusammenarbeit mit dem Zentralen Studio für Dokumentarfilm, Moskau. 75 Minuten, 16mm Farbe und s/w Redaktion: Hans Helmut Hillrichs / Karla Krause.
Auszeichnungen: Preis der deutschen Filmkritik, Duisburg 1989 | Egon-Erwin-Kisch-Preis, Internationale Leipziger Dokumentarfilmwoche 1989 | 26. Adolf-Grimme-Preis 1990, Preis der 'Marler Gruppe' | Erster Preis beim Robert-Geisendörfer-Preis 1991
Christoph Boekel ist Regisseur, Autor und Produzent von Dokumentarfilmen, der sich in seinen zahlreichen Filmen häufig mit dem Thema Krieg befasst. Er absolvierte ein Diplomstudium an der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film, war Mitbegründer der Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm sowie des Internationalen Dokumentarfilmfestivals München.
Fotos: aus dem Familienarchiv von Christoph Boekel